HEMPELS Verkäufer im Café

Von der Straße zurück ins normale Leben

Jürgen Kuckuk lebte 20 Jahre ohne festen Wohnsitz auf der Straße, bis er in Husum Martina kennenlernte. Mittlerweile sind die beiden verheiratet. Der NDR zeigt einen Beitrag zum dem Paar. HEMPELS berichtete im Januar 2014 in der Titelgeschichte.

 

"Von der Straße zurück ins normale Leben": Das Schleswig-Holstein Magazin hat am 11. Oktober 2014 über Jürgen Kuckuk berichtet, der dank einer Frau aus der Obdachlosigkeit in ein normales Leben zurückkehrte. Der Film ist unter dem oben genannten Titel in der Mediathek des NDR unter www.ndr.de zu sehen.


HEMPELS hatte ebenfalls mit dem Paar gesprochen und ihm im Januar 2013 seine Titelgeschichte gewidmet.

Ich drück dich
Zwanzig Jahre schlug sich Jürgen Kuckuk auf der Straße durch. Dann lernte er in Husum eine Frau kennen, die so ganz anders lebte als er. Jetzt sind sie verheiratet und sie unterstützt ihn dabei, das Leben in einer Wohnung von Grund auf wieder neu zu erlernen
Es ist später Mittag, als Jürgen Kuckuk auf dem kleinen Sofa in der Wohnküche zu rutschen beginnt. Ein paar Handbreit neben seiner Frau saß er die ganze Zeit, jetzt schiebt er sich mit seinem schmalen Körper vorsichtig heran und legt den Kopf fest gegen ihre Schulter. Verletzlich und schutzbedürftig wirkt der 57-Jährige plötzlich, wie ein kleiner Junge, und seine drei Jahre jüngere Ehefrau Martina drückt ihn gleich in die Arme, ihre Augen leuchten dabei.
„Ich brauche das“, sagt Jürgen Kuckuk nach einer Weile und versucht zu erklären, was eigentlich keiner Erklärung bedarf, „diese Nähe und das Wissen um eine andere Person – da habe ich Nachholbedarf.“ Und seine Frau fügt hinzu, ihn weiterhin fest im Arm haltend: „Draußen musste er immer überlegen: Wem kann ich vertrauen? Draußen musste er immer auf sich selbst aufpassen, da hat ihn niemand gestreichelt. Wenn man ein solches Leben hinter sich lässt muss man erstmal lernen, Nähe wieder zuzulassen.“
Draußen – es ist oft zu hören, dieses Wort, wenn man sich mit dem Ehepaar Kuckuk unterhält. Vor anderthalb Jahren haben beide sich kennengelernt, inzwischen sind sie verheiratet und bewohnen in Husum eine kleine Zwei-Zimmer-Wohnung. Sie leben jetzt in einer Welt, die Jürgen Kuckuk über die Jahre fremd geworden war und an die er sich erst langsam wieder herantastet. „Wann habe ich mich vorher eigentlich das letzte Mal in so einer Wohnung aufgehalten?“, fragt er irgendwann und blickt vom Sofa hinüber zu Fernseher, Herd und Schränken, „eigentlich nie!“
Gut zwanzig Jahre spielte sich sein Dasein draußen auf den Straßen ab. Kuckuk lebte ohne festen Wohnsitz, schlief mal hier und dann dort, immer da wohin es ihn gerade gezogen hatte. Jetzt muss er nicht nur das Wohnen an einem festen Ort wieder neu erlernen.
So unauffällig wie viele andere Paare auch wirken die Eheleute im ersten Moment. Und wenn man mit ihnen über das Leben spricht, dann antworten beide in wohlformulierten Sätzen. „Einander zuhören und Dinge ausdiskutieren, eine andere Person immer respektieren“, beschreibt Jürgen Kuckuk irgendwann seine Leitplanken eines sozialen Miteinanders. „Als ich ihn vor anderthalb Jahren das erste Mal traf“, sagt seine Frau Martina, „hatte ich plötzlich einen ernsthaften Gesprächspartner“.
Der aus der Nähe von Hannover stammende Kuckuk wuchs in einer streng konservativen Familie auf, sein Vater und später auch der Bruder machen Karriere als Berufssoldat. Er selbst verweigert nach dem Abitur den Wehrdienst und studiert in Freiburg zunächst einige Semester Literaturwissenschaft. Bald heiratet er, wird Vater einer Tochter und macht eine Umschulung zum Speditionskaufmann. Sein Leben und das der Familie bestreitet Kuckuk jedoch nicht mit Büroarbeit, sondern als freiberuflicher Redenschreiber oder Gestalter von Hochzeitszeitungen. Das Schreiben war schon früh zu seinem wichtigsten Werkzeug geworden, das er bis heute seiner manchmal weiterhin stotternden Aussprache entgegensetzt.
Als die Ehe 1991 in die Brüche geht, beendet Kuckuk für die kommenden zwanzig Jahre auch sein bürgerliches Leben. „Ich konnte nicht mehr“, sagt er heute, „da war zu viel Müssen.“ Er will die von ihm als belastend wahrgenommenen festen Strukturen abschütteln, lässt sich von dem Survivalexperten Rüdiger Nehberg in die Kunst des autarken Überlebens einweisen und begibt sich auf Reisen. Mehrere Male fährt er nach Südamerika, einmal auch als Passagier auf einem Seelenverkäufer. „Ich wollte andere Kulturen kennen- und verstehen lernen, nicht bloß irgendwo auf der Straße abhängen“, sagt er dazu. Seinen Lebensunterhalt verdiente er sich immer als Tagelöhner.
Dass dieses Leben, in dem der Alkohol zu seinem ständigen Begleiter wurde, die Gesundheit massiv beeinträchtigte, wurde ihm vor einigen Jahren bewusst. „Eingestanden habe ich mir meine Abhängigkeit 2001“, sagt Kuckuk, zwischendurch war er zwei Jahre lang auch mal weg vom Alkohol, „aber ganz ohne geht es heute nicht. Ich habe den Level jetzt runtergedrückt und trinke dann nicht mehr, wenn ich Diskussionen nicht mehr folgen kann.“ Dass er schon länger mit Herzrhythmusstörungen zu kämpfen hat, versucht er zu akzeptieren.
Immer wieder hat er in den vergangenen Jahren auf seinen Reisen zwischen Nord- und Südeuropa, bei seinen Erkundungen unterschiedlicher Kulturen auch in Husum Station gemacht. „Die Leute sind hier sind sehr freundlich“, sagt Jürgen Kuckuk, „nie wurde ich als Penner angesehen, man hat mich immer als Menschen wahrgenommen und mir auch geholfen.“ Im Sommer 2012, als er sich erneut in Husum aufhält, nimmt er auf einer Parkbank eine Frau wahr.
„Es war keine Liebe auf den ersten Blick“, sagt Jürgen Kuckuk im Rückblick, „mich hat damals nur fasziniert, dass Martina offenbar mit dem Aufschreiben eigener Gedanken beschäftigt war, ich schreibe ja auch so gerne.“  
„Wir hatten sofort ein tiefes Gespräch, weißt du noch, Jürgen?“
„Ja, du machtest mich im ersten Moment fast sprachlos mit deinen Sätzen.“
„Wir haben uns unterhalten, und es kam etwas zurück von ihm. Das kannte ich nicht mehr.“
„Über gesellschaftliche Konventionen haben wir gesprochen“, erinnert Jürgen.
„Über alles konnten wir reden. Da waren Resonanz und eine gleiche Ebene mit dir, dem ich vorher nie begegnet war“, sagt Martina.
„Ich war damals ja noch ein Wohnungsloser.“
„Die Spannung wurde immer größer. Sonst hätte ich erst gar nicht versucht, ihn bald wiederzusehen.“
„Martina und ich haben uns nicht gesucht, trotzdem haben wir uns gefunden“, sagt Jürgen.
Kuckuks heutige Ehefrau Martina ist gelernte Kinderpflegerin. Später arbeitete sie als Bürogehilfin und führte in den 90er Jahren einen kleinen gastronomischen Betrieb in Husums Innenstadt. Als Hausfrau kümmerte sich die dreifache Mutter dann um die Erziehung der Kinder, 2005 wurde ihre zweite Ehe geschieden. Inzwischen leben Martina wie auch Jürgen Kuckuk von Hartz IV. „Der Alltag ist nicht einfach“, sagt die Ehefrau, „aber ich habe noch nie so viel mit jemandem lachen können wie jetzt mit ihm.“
Das alltägliche Leben mit einem Partner und in einer gemeinsamen Wohnung wieder erlernen müssen – für Jürgen Kuckuk bleibt das vorerst weiter eine große Herausforderung. „Draußen“, benutzt seine Frau Martina jetzt wieder dieses eine Wort, „draußen hat ihn die gehetzte Orientierungslosigkeit bestimmt, Misstrauen und Vorsicht lassen sich nicht von heute auf morgen ablegen. Er hatte auch verlernt, ruhig zu schlafen; anfangs schreckte er bei jedem Geräusch in der Wohnung auf.“  –  „Ich habe mich früher am liebsten dort hingelegt, wo keine Menschen in der Nähe waren“, antwortet ihr Mann. Im gemeinsamen Schlafzimmer hat er jetzt ein kleines Stofftier liegen, ein Schaf: „Auch bei den Schafen auf dem Deich habe ich mich nachts immer sehr sicher gefühlt.“
Manchmal stürzt ihm in der neuen Wohnung sprichwörtlich die Decke auf den Kopf. „Dann muss ich nach draußen“, sagt Jürgen, „ich kann dann Decke und Wände nicht mehr ertragen.“ Und wenn die Fenster im Wohnzimmer geschlossen sind, kommt es vor, dass er sie aus Angst vor zu wenig Luft trotz Kälte oder Straßenlärm aufreißt. Inzwischen, sagt die Ehefrau, wisse er mit einigen technischen Haushaltsgeräten umzugehen: „Wie viele Apparate hast du anfangs zerstört, weil du mit ihnen nicht klarkamst?“
Für Jürgen Kuckuk geht es darum, ein über viele Jahre gelebtes Leben langsam auf vollkommen neue Füße zu stellen. Wie wird ein Bankkonto eröffnet, wie ein fester Wohnsitz angemeldet? „Als Partnerin muss ich ihm gegenüber große Toleranz aufbringen“, sagt Ehefrau Martina. Und Jürgen, wie erlebt er diesen Prozess der Veränderungen? „Früher konnte ich mir nicht vorstellen, abends auf der Couch zu sitzen und Fernsehen zu schauen, jetzt ertappe ich mich immer häufiger dabei, dass mir das gefällt.“ Und dann fügt er noch hinzu: „Ich trage jetzt nicht nur Verantwortung für mich, sondern auch für meine Frau.“
Vielleicht werden beide auf ihrem gemeinsamen Weg noch Rückschläge erleben, kleinere oder größere, beirren lassen wollen sie sich davon dann nicht. Dass sie ihre Geschichte, die vor allem Jürgens ist, öffentlich erzählen, geschieht in der Absicht, Verständnis zu wecken und anderen seit vielen Jahren obdachlos lebenden Menschen Mut zu machen. „Der Weg zurück ist nicht einfach, aber möglich“, sagt Jürgen Kuckuk. Martina fügt hinzu: „Niemand muss besorgt sein wegen eines Mieters wie Jürgen, hier im Haus klappt es super nett mit den Nachbarn.“
Dann nimmt sie ihn wieder in den Arm, drückt sich noch ein Stück näher an ihn heran und sagt, „ich nehme dich so wie du bist.“

Text: Peter Brandhorst
Fotos: Heidi Klinner-Krautwald