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Ex-Nationalspieler Kevin Kurányi: Zuhause in Moskau

Fünf Jahre hat der frühere deutsche Fußball-Nationalspieler Kevin Kurányi  mit seiner Familie in Moskau gelebt und bei Dynamo gespielt. In einem Gastbeitrag über seinen Alltag schreibt der 36-Jährige, dass er keinen einzigen Tag missen möchte

TEXT: KEVIN KURÁNYI

Bären auf der Straße? Leere Stadien bei den Spielen? Unmengen ausgetrunkene Wodkagläser, die erst an der Wand und dann auf dem Boden landen? Solche Stories habe auch ich immer wieder gehört. Kein einziges dieser Vorurteile hat sich in den fünf Jahren bewahrheitet.

Bester Beweis dafür, dass wir uns wohlgefühlt haben: Als wir nach fünf Jahren in Moskau im Familienkreis diskutierten, wo wir die nächsten Jahre verbringen wollten, war dies eine der emotionalsten Diskussionen – und am Ende gab es eine relativ knappe 3:1-Abstimmung. Meine Frau, meine Tochter und ich waren für eine Rückkehr – aber mein Sohn Karlo wollte unbedingt in Moskau bleiben. Es brauchte viele Gespräche, um ihn auch emotional wieder nach Deutschland "mitzunehmen".

Harter Winter

Meistens gibt es ja bei Fußballern viele Gründe, die letztendlich zu einem Orts- und Vereinswechsel führen. Bei uns war es eigentlich nur ein einziger, um Moskau wieder zu verlassen: Wir waren alljährlich von Anfang Januar bis Anfang März mit der Mannschaft von Dynamo zur Vorbereitung im Süden, weil die klimatischen Bedingungen in Russland kein geregeltes Training zuließen. Diese acht Wochen liegen jedoch leider in den beiden unangenehmsten Monaten in Moskau – und es war für die Familie nicht einfach, jedes Jahr diese lange Zeit alleine dort zu verbringen. Zwar haben wir die minus 42,2 Grad, die als Rekord-Minustemperatur in Moskau gemessen wurden, nicht direkt erlebt, weil sie vor unserer Zeit waren. Aber Januar und Februar alleine in Moskau, das war für meine Frau und die Kinder schon schwierig.

Für die restlichen zehn Monate des Jahres hatten wir in Moskau ein sagenhaftes Trainingszentrum im Norden der Stadt. Das spektakulärste, das ich bisher gesehen habe. Für jeden Spieler ein eigenes Zimmer, Schwimmbad, jede Menge Rasenplätze, modernste Fitnessräume, Restaurant – es fehlte gar nichts.

Borschtsch und blaue Bohnen

Aber natürlich gab es auch ganz besondere Erlebnisse in diesen fünf Jahren. Unvergesslich meine "Schießübungen" bei Dynamo. In der Vorbereitung kam eines schönen Tages der Präsident ins Trainingsquartier, und auf dem Programm standen Schießübungen. Ich dachte natürlich an Schüsse auf dem Fußballplatz. Aber wir sind auf ein Militärgelände gefahren, plötzlich hatte ich eine Kalaschnikow in der Hand und wir haben auf Zielscheiben geschossen. Das war auch für mich "Teambuilding" der ganz besonderen Art.

Ganz vorne in meiner Rangliste steht auch das Erlebnis am Flughafen von Grosny. Wir waren beim Auswärtsspiel gegen Terek Grosny und wollten zurückfliegen. Am Flughafen standen wir – wie üblich – vor einem Metalldetektor in der Schlange. Wie immer nahmen die Passagiere Schlüssel, Geldbeutel, Handys aus den Taschen, gingen durch den Metalldetektor und nahmen danach die Sachen wieder an sich. Plötzlich zog der Mann vor mir eine Pistole, legte sie auf die Ablage neben dem Detektor, ging durch und schnappte sich die Pistole wieder.

Andere Länder, andere Sitten – und auch andere Speisen. Ich liebe die russische Küche. Die Piroschki – Teigtaschen, die mit Fleisch, Kartoffelpüree oder Kraut gefüllt sind – waren immer wieder herausragend. Mein Lieblingsessen war jedoch Borschtsch, das russische Nationalgericht. Die Suppe mit Kartoffeln, Fleisch, Kohl, Rote Beete und Möhren, serviert mit saurer Sahne, hatte bei mir fast die Wirkung eines Energy-Drinks. Und das ohne jegliche chemischen Zusätze.

Suche nach Verständigung

Beim privaten Leben in Moskau hat mir natürlich meine Frau Viktorija geholfen, die sieben Sprachen spricht – unter anderem auch russisch. Aber als Spieler bist du eben auch oft mit der Mannschaft unterwegs, und deshalb habe ich auch von Anfang an Russisch gelernt. Und vor allem bin ich, wie es nun mal meine Art ist, auf die Menschen zugegangen, was mir sicherlich viel geholfen hat. Als ich ankam, war die Mannschaft von Dynamo zerstritten, es gab auf der einen Seite die russische Fraktion und auf der anderen Seite die Fraktion der ausländischen Spieler. Von alleine regelt sich das nicht, und es war mir klar, dass man so im Fußball keinen Erfolg haben kann. Also haben wir Mannschaftsabende veranstaltet und acht verschiedene Nationalitäten zusammengebracht. Dadurch entstand der Teamspirit, von dem wir auf dem Spielfeld getragen wurden.

Russland ist ein sportbegeistertes Land, Sportart Nummer 1 ist und bleibt aber Eishockey. Ich hoffe jedoch, dass der Fußball mit Hilfe der Weltmeisterschaft noch weiter aufholen kann. Inzwischen gibt es auch immer mehr sehr starke ausländische Spieler in der Liga, sodass der Fußball stetig an Bedeutung gewinnt.

Russen sind offene Menschen mit großem Herzen

Egal, was man über das Autofahren in Moskau hört – das sind dann doch keine Vorurteile, sondern Tatsachen. Es gibt nichts, was man da nicht erleben kann. Ich hatte beim Fahren immer unterschriebene Trikots auf der Rückbank, und das hat mir des Öfteren bei Verkehrskontrollen weitergeholfen. Nervig sind aber vor allem die Staus. Wenn man zur falschen Zeit am falschen Ort ist, ist es nicht mehr die Frage, wann man heimkommt, sondern man muss in Erwägung ziehen, dass schon jemand eine Vermisstenanzeige aufgegeben hat. Ich habe mal in der Stadt für zwölf Kilometer vier Stunden gebraucht.

Die Menschen in Russland wirken vielleicht im ersten Moment etwas distanziert. Aber in Wirklichkeit sind sie sehr offene Menschen mit großem Herzen. Dass ich als ausländischer Spieler Kapitän einer so ruhmreichen Mannschaft werden durfte, erfüllt mich heute noch mit Stolz. Ohnehin bin ich sehr international: Geboren bin ich in Rio de Janeiro, mein Vater stammt aus Stuttgart und hat ungarische Wurzeln, meine Mutter ist Panamaerin. Ich selbst besitze die brasilianische, panamaische und deutsche Staatsbürgerschaft. Und die ersten 16 Jahre meines Lebens habe ich ausschließlich in Lateinamerika verbracht.

Aber in der Zeit zwischen 2010 und 2015 ist eine ganz neue Facette dazugekommen, hat sich unser Horizont erweitert. Das Wohlergehen des russischen Volkes liegt uns seither wirklich sehr am Herzen, wir hatten so viele unglaublich herzliche Begegnungen dort. Wir haben in Moskau fünf wunderschöne, interessante und auch lehrreiche Jahre verbracht, die keiner von uns je vergessen wird.

Dieser Beitrag wurde uns freundlicherweise zur Verfügung gestellt von Trott-war, dem Straßenmagazin im Südwesten.

Kevin Kurányi in Moskau. (Foto: Privat)