"Zuerst zwölf Euro Mindestlohn einführen"

Interview mit SPD-Kanzlerkandidat Olaf Scholz, erschienen im Mai 2021

Herr Scholz, dieses Interview führe ich für 20 Straßenmagazine, die in ganz Deutschland von Menschen verkauft werden, die obdachlos waren oder sind. Hand aufs Herz: Wann haben Sie zuletzt eine Straßenzeitung gekauft?
Oh, das ist einige Zeit her! Das ergibt sich meistens, wenn ich in einem Restaurant sitze und eine Verkäuferin oder ein Verkäufer an meinen Tisch kommt. Seit Corona geht beides nicht.
Früher wählte vor allem der "Kleine Mann" Ihre Partei; heute ist der Anteil der Wählerinnen und Wähler aus einkommensarmen Schichten vergleichsweise gering. Fehlt es der SPD an Bodenhaftung?
Nein, im Gegenteil. Wie oft habe ich an Info-Ständen die Klage gehört: "Um einen wie mich gehts ja nicht." Doch! Wir machen Politik für dich! Das ist der Grund, warum ich überhaupt in der Politik bin. Die Corona-Krise ist da auch eine Chance: Denn der Beifall für die Corona-Heldinnen und -Helden darf nicht einfach nur verhallen, die Anerkennung muss sich auch im Portemonnaie niederschlagen. Ich möchte in einer Gesellschaft leben, in der diejenigen, die in einem schicken Viertel ihren Café Latte trinken, sich mit denen politisch verbinden, die ihnen den Kaffee an den Tisch bringen. Die Theater-Regisseurin ist genauso Teil der Gesellschaft wie der Altenpfleger oder die Ingenieurin. Wenn ich Kanzler werde, wird als einer der ersten Entscheidungen der Mindestlohn auf mindestens zwölf Euro angehoben. Wir stehen für bessere Löhne und sichere Arbeitsplätze: in der Pflege, an den Discounterkassen, in den Logistikzentren.

678.000 Menschen haben laut der letzten Schätzung hierzulande keine eigene Bleibe – doch Ihr Wahlprogramm erwähnt wohnungslose Menschen nirgends. Sind das keine Wähler für die SPD?
Natürlich taucht das Thema Wohnungsnot in unserem Programm auf. Wir setzen uns massiv dafür ein, dass in Deutschland mehr Wohnungen gebaut werden, bezahlbare Wohnungen. Bevor ich in Hamburg Bürgermeister wurde, habe ich verlangt, dass wir viel mehr Wohnungen bauen müssen, weil viele unter den steigenden Mieten sehr leiden. Wir haben den Wohnungsbau in Hamburg richtig angekurbelt, mit 10.000 Baugenehmigungen pro Jahr – ein Drittel Eigentums-, ein Drittel Miet- und ein Drittel Sozialwohnungen. Als Bundesfinanzminister habe ich mit durchgesetzt, dass eigens das Grundgesetz geändert wird, damit der Bund den sozialen Wohnungsbau weiterhin unterstützen kann. Mein Ziel: 100.000 neue Sozialwohnungen in Deutschland pro Jahr. Wohnen ist die soziale Frage unserer Zeit.
Und was ist mit den Menschen ohne deutschen Pass? Die heutigen Obdachlosen sind mehrheitlich nicht-deutsch, sondern etwa aus Polen, Rumänien, Bulgarien. Im Sommer malochen viele auf Baustellen oder in der Landwirtschaft, im Winter fängt unser soziales Netz sie oft nicht auf. Wie will die SPD das ändern?
Unser Ansatzpunkt: Der Kampf gegen die Ausbeutung von Arbeitskräften und illegale Beschäftigungsverhältnisse. Die Zustände in der Fleischindustrie oder auf dem Bau sind schlimm – deshalb haben wir reagiert. Der Zoll hat neue Kontrollkompetenzen erhalten und mehr Personal, um die Branchen strikter zu überprüfen. Mich empört es, wie viele lange Zeit hingenommen haben, dass so etwas mitten in Deutschland geschieht – Knebelverträge, die den Beschäftigten fundamentale Rechte vorenthalten und sie unter menschenunwürdigen Bedingungen untergebracht haben. Es muss darum gehen, jenen das Handwerk zu legen, die an solcher Ausbeutung verdienen.
Reicht das, um den südosteuropäischen Wanderarbeiterinnen und -arbeitern zu helfen?
Die Europäische Union garantiert die Freizügigkeit. Und es gilt das hiesige Arbeitsrecht, das die Arbeitgeber in der Pflicht sieht – das müssen wir durchsetzen. Die Wanderarbeiter und -arbeiterinnen müssen wir über ihre Rechte in ihrer jeweiligen Muttersprache informieren, viele wissen gar nicht, was ihnen zusteht. Gemeinsam mit Bundesarbeitsminister Hubertus Heil habe ich das DGB-Projekt "Faire Mobilität" besucht, das Arbeitsmigranten genau diese Unterstützung bietet.

Die Stadt Berlin hat begonnen, Obdachlosen Wohnungen ohne Vorbedingungen anzubieten, Stichwort "Housing first". Andere tun das nicht. Was halten sie von dem Modell?
Erst mal ist es wichtig, dass die Kommunen für alle, die auf der Straße leben, gut erreichbare und niederschwellige Angebote vorhalten. Jetzt in der Corona-Krise blieben vielerorts die Unterkünfte über die kalte Winterzeit hinaus offen bis in den Frühling …
... also sind Sie nicht für "Housing First"? Finnland feiert damit bereits Erfolge.
Diese Fragen liegen in der Entscheidungskompetenz der Städte und Gemeinden – und dort gehören sie auch hin. Da gibt es viele gute Ansätze. Zwei Herausforderungen sollten wir aber unterscheiden: Zum einen die wachsende Migration innerhalb der EU, die die Nachfrage auf dem Wohnungsmarkt steigen lässt. Und zum zweiten diejenigen, die seit Jahren auf der Straße leben. Was aus der Perspektive der jeweils Betroffenen der richtige Weg ist, kann nur vor Ort sachgerecht entschieden werden.

Sie haben sich mal als "Sehr-Gut-Verdiener" bezeichnet. Die Zeitung "KiPPe" aus Leipzig fragt, ob Leute wie Sie höhere Steuern zahlen sollen?
Ja, unbedingt! Diejenigen, die sehr viel verdienen – und dazu zähle ich – sollen mehr Steuern zahlen, um Leute mit mittleren und niedrigeren Einkommen zu entlasten. Wir brauchen ein faires und gerechtes Steuersystem.
Das Deutsche Institut für Wirtschaftsforschung stellte 2014 fest, dass die 45 reichsten Haushalte hierzulande so viel Geld haben wie die ärmere Hälfte aller Haushalte zusammen. Dieses Ungleichgewicht nimmt jetzt noch zu; die Regierungs-Bazooka sieht etwa für Hartz-IV-Empfänger bloß eine Einmalzahlung von 150 Euro vor. Wieso wächst die soziale Schieflage trotz einer mitregierenden SPD?
Diese Frage ist, mit Verlaub, etwas platt. Gerade in der Pandemie hilft der Staat sehr umfassend allen Bevölkerungsschichten. In allererster Linie geht es um den Schutz von Leib und Leben von uns allen. Und es geht um den Schutz von Beschäftigten und Unternehmen, die unter den massiven Beschränkungen zu leiden haben, die wir ergreifen mussten, um die Ausbreitung des Virus zu begrenzen. Wir setzen Milliarden ein, um durch die Kurzarbeits-Regel Arbeitsplätze zu retten. Das macht uns gerade ganz Europa nach. Familien unterstützen wir mit dem Corona-Kinderbonus, der auch Familien in Grundsicherung zukommt und zum dritten Mal ausgezahlt wird. Und mir ist klar, was nach dieser Krise nicht passieren darf: Wir dürfen den Sozialstaat, der uns gerade ganz gut durch diese Pandemie bringt, hinterher nicht kaputtsparen.

Die SPD will Hartz-IV in ein "Bürgergeld" verwandeln. Sozial fänden die Sozialverbände, wenn der Regelsatz auf 600 Euro ansteigen würden. Gehen Sie da mit?
Die Corona-Krise hat eins gelehrt: Plötzlich sind Bürgerinnen und Bürger in eine unverantwortete finanzielle Krise geraten, die zuvor nie damit gerechnet hätten. Das hat uns allen gezeigt, wie wichtig es ist, dass der Staat helfend zur Seite steht und nicht noch Steine in den Weg legt. Darin liegt eine große Chance für unser Bürgergeld: Fördern, fördern, fördern – ohne mit nickeligen Sanktionen auszubremsen. Wenn etwa ein Selbständiger Grundsicherung in Anspruch nimmt, muss er sich deshalb nicht einen neuen Job suchen, sondern kann sein Geschäft wieder auf den richtigen Weg bringen. Er muss auch nicht aus seiner Wohnung und darf seine Rücklagen behalten. Der US-Philosoph John Rawls hat mal treffend gesagt: Wenn eine Gesellschaft neu konstruiert wird – und das wollen wir mit dem Bürgergeld – möge man bedenken, dass man nicht weiß, ob man künftig arm oder reich sein wird.
Bitte Butter bei die Fisch': Hartz IV auf 600 Euro anheben, ja oder nein?
Klar ist: Bei den Regelsätzen gibt es Steigerungsbedarf. Um die Schwächsten vor politischer Willkür zu schützen, darf der Regelsatz aber nicht auf Zuruf – auch nicht via Interviews – festgesetzt werden, sondern muss sich aus den dahinterliegenden Regeln ergeben.
Statt eines bedingungslosen Grundeinkommens will Ihre Partei das Recht auf Arbeit einführen. Wo kann man dieses Recht dann einklagen?
Unser Land steht vor Weichenstellungen, die entscheidend sein werden für unsere Zukunft. Die Frage ist: Schaffen wir es, den Klimawandel erfolgreich einzudämmen und gleichzeitig technologisch in der Weltspitze zu bleiben und weiterhin über gut bezahlte Arbeitsplätze zu verfügen? Das geschieht nicht von allein, darum muss man sich kümmern. Beispielsweise indem wir die Erneuerbaren Energien viel stärker ausbauen als bislang geplant, indem wir in die Wasserstoff-Forschung investieren, damit wir über saubere und verlässliche Energie verfügen, wenn kein Wind weht und die Sonne nicht scheint. Denn wir werden viel mehr grünen Strom brauchen, damit CO2-neutrales Wirtschaften in der Stahl-, Chemie- und Automobilindustrie möglich wird. Die Industrie-Unternehmer wissen das, die Politikerinnen und Politiker von CDU/CSU eher nicht.
Und warum kein bedingungsloses Grundeinkommen?
Weil ich den Verdacht nicht loswerde, dass es vor allem dazu führt, Leute abzufinden, statt sich um sie so zu kümmern, dass sie in Arbeit kommen.
Was bringt das Recht auf Arbeit?
Es formuliert einen Anspruch des Einzelnen gegenüber der Gesellschaft. Die Bundesagentur für Arbeit muss zu einer Arbeitsversicherung ausgebaut werden, die aktiv dafür sorgt, dass man mit einer neuen Qualifikation auch einen neuen Beruf ausüben darf. Ich bin dafür, dass auch eine 40-Jährige oder ein 50-Jähriger nochmal einen komplett neuen Job erlernen kann und dass es darauf einen Rechtsanspruch gibt.

Ein Finanzskandal aus Hamburg verfolgt Sie: Vor einiger Zeit wurde bekannt, dass der Chef der Warburg Bank einen Bettelbrief, den er Ihnen im November 2016 übergeben hatte, auf Ihre Anregung hin auch an den damaligen Finanzsenator und heutigen Bürgermeister Peter Tschentscher schickte. Wenige Tage danach hat die Finanzbehörde entschieden, Ansprüche auf 47 Millionen Euro verfallen zu lassen – Gelder, die sich die Bank via Cum-Ex-Geschäfte erschlichen hatte. Wie erklären Sie diese zeitliche Nähe?
Die Kurzfassung: Es hat keinerlei politische Einflussnahme auf die Entscheidung des Finanzamtes Hamburg gegeben.
Zuletzt eine Frage, die wir schon Robert Habeck von den Grünen gestellt haben: Was würden Sie als erstes tun, wenn Sie Bundeskanzler würden?
Einen Mindestlohn von zwölf Euro einführen.
Und was werden Sie tun, wenn Sie nicht Kanzler werden?
Ich werde Kanzler.

Die Interviewreihe mit Berliner Politikspitzen der demokratischen Parteien vor der Bundestagswahl am 26. September hat Annette Bruhns vom Hamburger Straßenmagazin Hinz&Kunzt im Namen von 20 deutschen Straßenzeitungen geführt, unter ihnen wir von HEMPELS. Zu Wort kamen Robert Habeck, Co-Vorsitzender der Grünen, SPD-Kanzlerkandidat Olaf Scholz, FDP-Parteichef Christian Lindner, Unions-Kanzlerkandidat Armin Laschet und die Co-Spitzenkandidatin der Linken, Janine Wissler.