HEMPELS Verkäufer im Café

Ein Fahrradberber hatte die erste Idee

Wie in einer Kieler Einrichtung für Wohnungslose alles begann

TEXT: LIV SCHNOOR

Menschen eine Stimme zu geben, die sonst zu wenig wahrgenommen werden, ist bis heute der Grundgedanke von Straßenmagazinen. Denn oft schauen Politik und Gesellschaft weg und möchten sich nicht mit dem Leid und der Not von Wohnungslosen, von Menschen am Existenzlimit auseinandersetzen. HEMPELS gehört zu den Straßenmagazinen, die sich dieser Aufgabe stellen. Aber wie fing alles an?

Die ersten Ideen entstanden ab Juli 1995 in einer Tageswohnung der Evangelischen Stadtmission Kiel in der Hamburger Chaussee, einem Projekt für Wohnungslose. Dort hielt sich zu der Zeit auch Helmut Müller auf, ein Fahrradberber, der gerne durch halb Deutschland radelte. Selbstbewusst als "Berber" bezeichneten sich in Deutschland vor allem in den 1980er Jahren gesellschaftspolitisch interessierte Obdachlose. Der Begriff war angelehnt an die stolzen Wanderstämme nordafrikanischer Berber, die unter anderem auf eine eigenständige Kultur bestehen. So mit seinem Rad unterwegs kam Helmut Müller auch mit damals bereits existierenden Straßenmagazinen in Kontakt. Das erste Magazin Deutschlands erschien 1992 in Köln, inspiriert von Projekten in den USA und England, kurz darauf entstanden weitere Straßenmagazine in München und Hamburg.

Das war die Idee, die Fahrradberber Helmut von einer seiner Reisen mit nach Kiel brachte. Ziemlich schnell sammelte sich in der Tageswohnung ein kleines Team, das sich wöchentlich austauschte und mit Hilfe der damals dort beschäftigten Sozialarbeiter Jürgen Knutzen – inzwischen verstorben – und Jo Tein – heute Vorsitzender des Trägervereins von HEMPELS – die erste Ausgabe plante. Ziel war es, nicht nur mit dem Verkauf der Magazine auf der Straße etwas Geld zu verdienen, sondern die Geschichten von Wohnungslosen und armen Menschen zu erzählen.

Nach einem halben Jahr Vorbereitung war es dann soweit. Durch die einmalige finanzielle Unterstützung des Diakonischen Werks mit 5000 D-Mark konnte die Nullnummer damals noch semiprofessionell gedruckt werden. "Ich habe mich selber gefragt, ob das ein Fehler war und ob das überhaupt jemand haben will", erinnert sich Jo Tein, wie er im Januar 1996 das erste Heft in Händen hielt. Doch durch das Engagement und die Leidenschaft des Teams verkaufte sich das Magazin mit einer Auflage von 5000 Heften innerhalb von nur einem Monat. Schnell stand fest: Es gibt eine Zukunft, und es wird weitere Artikel und Hefte geben. Auch die etablierten Kieler Medien waren auf das Magazin aufmerksam geworden und berichteten darüber. Denn das Besondere war vor allem, dass die Verkäufer*innen an dem Heft mitarbeiteten. Sie schrieben ihre Geschichten selbst. Ihre Berichte waren authentisch und "zum Anfassen".

Schon Ende 1996 erschien das Magazin mit 10.000 Heften monatlich. Immer mehr Wohnungslose und arme Menschen wollten verkaufen, und der Verkaufserfolg spornte sie an. Obwohl jeder Verkäufer und jede Verkäuferin zunächst auch eine Hürde überwinden musste: "Was alle immer vergessen, wenn man HEMPELS verkauft: Man gibt ja auch preis, dass man es nicht geschafft hat irgendwo. Kein Job, und man stellt sich in die Öffentlichkeit und verkauft ein Straßenmagazin, was auch ein riesiger Schritt ist“, sagte der HEMPELS-Verkäufer Sascha anlässlich des 25-jährigen Jubiläums 2021 gegenüber dem Fernsehsender SAT 1 Nord. Doch das Gespräch mit den Käufer*innen, mal einen Kaffee mit ihnen zu trinken oder einfach nur ein Lächeln zu bekommen, ist ein wichtiger und bestärkender Bestandteil des Verkaufs. So bekommen die Verkäufer*innen das Gefühl, in der Gesellschaft wahrgenommen zu werden und verkaufen mit Stolz ihr Magazin, also ihre Geschichten.

Zurück zu den Anfängen, zurück zu den Arbeitsabläufen bei der Entstehung der ersten Hefte: Häufig birgt die Suchtproblematik einiger Wohnungsloser Schwierigkeiten. Unzuverlässigkeit ist ein ständiges Thema. Teilweise ist es den Menschen beispielsweise aus gesundheitlichen Gründen einfach nicht möglich, fest zu arbeiten, oder sie wechseln spontan ihren Aufenthaltsort und leben dann in einer anderen Stadt. Die Fluktuation war damals also groß. Das führte immer wieder zu Verzögerungen oder erforderte Improvisationsgeschick, um ein Heft weiter regulär drucken zu können.

Ende 1997 förderteb die Stadt Kiel und das damalige Arbeitsamt 20 befristete Arbeitsplätze. Es wurden Möglichkeiten von Weiterbildungen durch journalistische Schulungen geschaffen für das weiter anwachsende Team. Ein nächster Schritt voran war 1997 die Gründung des Trägervereins HEMPELS e.V. In der Folge kam es auch zu einer Erweiterung des Verkaufsgebietes – HEMPELS wurde von einem ursprünglich rein Kieler Magazin zu einem Straßenmagazin für ganz Schleswig-Holstein.

Am Stammsitz in Kiel wurden weitere Angebote für Wohnungslose wie eine Suppenküche eingerichtet. "Dem allen liegt von Beginn an die Idee zu Grunde, dass die beste Hilfe für arme und ausgegrenzte Menschen in vier Dimensionen liegt, die ein gutes Hilfsprojekt bieten sollte: bezahlte Arbeit, Selbstbestimmung, Lobby und Wahlfamilie", heißt es auf der HEMPELS-Homepage.

Dennoch kam es um die Jahrtausendwende vorübergehend zu einem Einbruch der Verkaufszahlen. Die Käufer*innen schienen anspruchsvoller geworden zu sein. Um das Magazin am Leben zu erhalten, musste es zur Umstrukturierung kommen, und so wurde 2003 der ausgebildete Journalist Peter Brandhorst ins Boot geholt: "Natürlich ist HEMPELS weiterhin die Stimme derjenigen, die prekär leben. Aber wir wollten zugleich auch die Dinge abbilden, die darüber hinausgehen. Themen, die auch Mut machen. Und HEMPELS soll auch ein unterhaltendes Magazin sein."

Nun wurden die Artikel kaum noch von Wohnungslosen und Ausgegrenzten geschrieben, die Professionalisierung stieß nicht nur auf Zustimmung. "Das hat auch einige Leute vergrätzt, die vorher dabei waren. Allerdings waren das sehr wenige“, so Jo Tein zum Umbruch. Bis heute haben Verkäufer*innen die Möglichkeit, der Redaktion jederzeit Themen vorzuschlagen oder mit Unterstützung der Redaktion eigene Artikel zu schreiben.

Aktuell gibt es 220 Verkäufer*innen in ganz Schleswig-Holstein. Insgesamt wurde in den 25 Jahren 1.500 Frauen und Männern eine Arbeitsmöglichkeit gegeben. Verkaufen dürfen nicht nur Wohnungs- oder Obdachlose, verkaufen kann jede Person, die nicht mehr eigenes Einkommen zur Verfügung hat, wie es dem aktuell gültigen Hartz-IV-Satz entspricht. "Es gibt viele Magazine, die viel schreiben, aber nichts sagen. HEMPELS sagt ’ne ganze Menge", betont Verkäufer Sascha. Und Redaktionsleiter Peter Brandhorst sagt: "Es wird dieses Magazin weiter geben müssen, denn solange es Armut und Wohnungslosigkeit gibt, braucht es HEMPELS."

Studierende der Kieler Christian-Albrechts-Universität haben im Sommersemester 2021 die bis dahin 25-jährige Geschichte von HEMPELS untersucht. Das Projektseminar am Historischen Institut leitete Professor Dr. Oliver Auge. Die Studierenden haben Unterlagen in HEMPELS-Archiven gesichtet, Interviews geführt – und ihre Ergebnisse in Artikeln wie diesem zusammengefasst.